Geben Sie einen Suchbegriff ein
oder nutzen Sie einen Webcode aus dem Magazin.

Geben Sie einen Begriff oder Webcode ein und klicken Sie auf Suchen.

Wir sind alle kleine Zyprer

Veröffentlicht am
Dieser Artikel ist in der erschienen.
PDF herunterladen
Tjards Wendebourg
Tjards Wendebourg
Artikel teilen:

Wenn ich früher auf dem Weg von Köln nach Hannover auf der Höhe von Wuppertal war, habe ich mich jedes Mal über ein Graffito gefreut, das ein Sprayer an die Lärmschutzwand der A1 gesprüht hatte: „Ihr steht nicht im Stau – Ihr seid der Stau“, stand da in gigantischen Buchstaben. Das wirkte natürlich ganz besonders gut, wenn man, wie so oft an dieser Stelle, tatsächlich nicht mehr vorwärtskam.

Der Satz drängt sich auch auf, wenn man morgens die Zeitung aufschlägt oder das Nachrichtenportal aufruft. Überall stehen schreiende Menschen auf der Straße, die auf ihre Regierung, die EU oder die Bundeskanzlerin schimpfen. In Zypern sind die Bürger besonders erbost darüber, dass man sie angeblich „teilenteignen“ will. Obwohl ein Zusammenbruch ihrer Banken sie wahrscheinlich deutlich teurer käme als jene 6 oder 10 % ihres Vermögens, mit denen die EZB und die EU sie – übrigens auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Regierung hin – an der Misere beteiligen wollte. Alle wollen, dass irgendwer die Zeche zahlt – nur man selbst nicht. Und alle sind unschuldig; stehen einfach so im Stau.

Nun gilt weiterhin der alte Merksatz: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Will meinen: Selbst wenn wir alle nicht wissen sollten, was hinter unserem Rücken getrieben wird, so sind wir am Ende doch mitverantwortlich. Die Zyprer, die Griechen, die Portugiesen, die Spanier, die Italiener und wir Mittel- und Nordeuropäer ebenso. Wir haben alle von dem Schneeballsystem profitiert, obwohl uns schon lange hätte klar sein müssen, dass irgendwann die Rechnung kommt. Dass Mitteleuropa dank einer historisch guten Industrie-Infrastruktur und kulturell gewachsener Geschäftstätigkeitskultur da stabiler reagiert, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir über unsere Verhältnisse leben oder zugelassen haben, dass andere über ihre und unsere Verhältnisse leben.

Lassen Sie uns hoffen, dass die Rechnung für dieses alltäglich gedankenlose „Vor-sich-Hinleben“ nicht jetzt auch noch nach diesen drei Monaten kommt, die uns ohnehin schon fehlen, weil der Winter auch im März noch nicht aufhören wollte. Lassen Sie uns hoffen, dass wir noch einmal mehr mit einem blauen Auge davonkommen. Und lassen Sie uns nicht zu laut über Zyprer schimpfen oder lachen; denn der kleine Zyprer in uns könnte sich auch jederzeit zu Wort melden.

Ich wünsche Ihnen und uns, dass wir von Ostern bis Weihnachten arbeiten können und dabei gutes, echtes, ehrliches Geld verdienen; auch damit wir uns noch mehr Zypern und noch mehr Winter wie diese leisten können.

Mehr zum Thema:
0 Kommentare
Was denken Sie? Artikel kommentieren

Zu diesem Artikel liegen noch keine Kommentare vor.
Schreiben Sie den ersten Kommentar.

Artikel kommentieren
Was denken Sie? Artikel kommentieren